Fachbeitrag

Überbauung «Papieri Cham» mit 1 000 Wohnungen und Arbeitsplätzen

Die Lorze entspringt dem Ägerisee, strömt zunächst durch das Lorzentobel, durchfliesst darauf den Zugersee und mündet nach rund 31 km bei Obfelden (ZH) in die Reuss. Kurz nach dem Ausfluss des Zugersees durchquert sie das Areal einer ehemaligen Papierfabrik in Cham (ZG), wo sie von alters her zur Energiegewinnung genutzt wird. Auf dem ehemaligen Fabrikgelände entsteht die neue Überbauung «Papieri Cham» für etwa 3 000 Menschen und mit rund 1 000 Arbeitsplätzen. Das Besondere an der Überbauung: Sie ist eines von achtundvierzig 2 000-Watt-Arealen in der Schweiz sowie das erste und vorläufig einzige 2 000-Watt-zertifizierte Areal im Kanton Zug.

Was ist ein 2 000-Watt-Areal?

Ein 2 000-Watt-Areal orientiert sich an den Zielen des energiepolitischen Leitbilds der 2 000-Watt-Gesellschaft und steht für Energieeffizienz, erneuerbare Energien, hohe Nutzungsdichte und nachhaltige Mobilität. Eine konkrete Anforderung für die Zertifizierung eines 2 000-Watt-Areals ist, dass die «verbrauchte Energie zu einem hohen Anteil auf dem Areal oder lokal produziert wird und eine hohe ökologische Qualität aufweist» (weiterführender Link am Ende des Artikels). Bei der Papieri Cham wird diese Anforderung durch die Integration eines Kleinwasserkraftwerks erfüllt. Was sich hinter diesem innovativen Projekt verbirgt, hat Samuel Vögtli (freier Mitarbeiter von Swiss Small Hydro) bei einem Besuch vor Ort erfahren.

Werdegang zum 2 000-Watt-Areal

Die Geschichte der Papieri Cham reicht weit zurück. Vor mehr als 350 Jahren war die Papiermühle gegründet worden und stellte während Jahrhunderten mit der Kraft der Lorze Papier her. Im Laufe der Jahrhunderte wuchs das Unternehmen, strukturierte sich um und passte sich den Herausforderungen einer sich wandelnden Welt an. Schliesslich verlagerte man die Produktion im Zuge der Globalisierung ins Ausland und es wurde still um das Fabrikgelände, bis im Jahre 2018 die Bewilligung des Bebauungsplans Rechtskraft erlangte.

Schon bei der Planung der Papieri Cham war klar, dass bei einem Investitionsvolumen von insgesamt 800 Mio. CHF die Nachhaltigkeit eine wichtige Rolle spielen soll. Vom Kanton gab es Auflagen für den Bebauungsplan. Darin wurde bezüglich Nachhaltigkeit festgelegt, dass sich das Projekt am Konzept «2 000 Watt» orientieren muss und die Erneuerung des Kleinwasserkraftwerks zwingender Bestandteil ist. Die Integration war auch aufgrund des hohen Strombedarfs der geplanten
Wärmepumpen, Mietwohnungen und Gewerberäume und den Ladestationen für E-Mobile sinnvoll. Schliesslich zeigte sich bei der Ausarbeitung des Energiesystems, dass dieses die Kriterien eines 2 000-Watt-Areals erfüllt und die Arealzertifizierung angestrebt und erreicht wurde.

Luftbild der Überbauung «Papieri Cham» im Mai 2023. Im Hintergrund liegt der Zugersee. Daraus fliesst die vom Kleinwasserkraftwerk Papieri genutzte Lorze rechts zum unteren Bildrand.
©Cham Group / Beat Bühler

Nicht nur für die Versorgung mit Strom, sondern auch mit Wärme und Kälte sind grosse Installationen nötig.
©Cham Group / Beat Bühler

Hochkomplexes Energiesystem

Heute zeichnet sich die Papieri Cham durch ein nachhaltiges und innovatives Energiesystem aus: Mittels Erdsondenfeldern und einer Flusswasserfassung, die über Wärmepumpen je ein zentrales Wärme- und Kältenetz speisen, werden Wärme und Kälte vollständig auf dem Gelände produziert. Zusätzlich decken lokale Wasserkraft und Photovoltaik 40 % des Strombedarfs. Insgesamt werden somit rund 75 % des Energiebedarfs vor Ort nachhaltig und CO2-neutral erzeugt. Besonders innovativ ist dabei die Integration des Kleinwasserkraftwerks und der anderen Energieträger in den urbanen Raum. Das eigene Stromnetz des Papieri-Areals, welches durch einen «Zusammenschluss zum Eigenverbrauch ZEV» legitimiert wird, ermöglicht die Verteilung und den Verkauf der elektrischen Energie an die Wohnungs- und Gewerbenutzer. Mit dem eigens entwickelten Energiemanagement-System werden die verschiedenen Quellen wie z.B. Wärme und Kälte aus Geothermie und die Wärme aus der Lorze in Berücksichtigung des selbst produzierten Stroms automatisiert genutzt. Mit dem Lastspitzenmanagement werde Stromlastspitzen verringert. Die Energieabrechnung aller Medien erfolgt automatisiert und digital von der Zählerauslesung zur Erstellung der direkt gemessenen Energieverrechnung bis zur Verbuchung im Finanzsystem.

Die Umsetzung eines ZEV ist an Bedingungen geknüpft. Eine davon lautet, dass der Strom innerhalb des ZEV gleich teuer oder günstiger sein muss als jener des lokalen Elektrizitätswerkes mit einem vergleichbaren Produkt. In der Papieri Cham wird dies mit einer Differenz von 1 Rappen pro kWh erreicht. Nichtsdestotrotz sind die Gestehungskosten des Stroms deutlich höher. Die «Kleinproduktion» mit der Photovoltaikanlage und dem Wasserkraftwerk ist also teurer als der Strom aus dem öffentlichen Netz, kann aber wegen tieferen Netzkosten, des Wegfalls der im öffentlichen Netz üblichen Abgaben und der Subventionierung zur Herstellung der Fischgängigkeit günstiger verkauft werden.

Im ZEV der Papieri Cham werden rund 20 % des Strombedarfs aus der Wasserkraft und weitere 20 % aus 6 500 m2 Photovoltaikanlage gewonnen. Dabei liegen die Gestehungskosten der Photovoltaik zwar einige Rappen unter jenen der Wasserkraft, dafür liefert letztere eine konstante Bandenergie und damit einen hohen Wert. Während die PV-Anlage in der Mittagszeit und im Sommer ihre höchsten Produktionswerte erreicht, erzeugt das Kleinwasserkraftwerk verhältnismässig konstant Strom, womit eine hohe Wertigkeit einhergeht. Gerade im Winter, wenn die Wärmepumpen viel Strom benötigen, trägt die Wasserkraft essentiell zur Autarkie des Areals bei.

Dank der Integration der unterschiedlichen Energieträger kann ein intelligentes Quellenmanagement betrieben und eine sehr hohe Effizienz erreicht werden. Das System verfügt weiterhin über die Möglichkeit der Spitzenlastbrechung. Durch die Kommunikation zwischen den Stromerzeugern und -verbrauchern lässt sich der Eigenversorgungsgrad des Areals optimieren. Dabei wird beispielsweise die Leistung der Wärmepumpen kurzfristig reduziert, Lüftungsanlagen kurz abgeschaltet. Diese Ausführungen werden intelligent gesteuert und beeinträchtigen den Komfort nicht. Das durchgängig digitalisierte Energiesystem ermöglicht zudem eine vollständig transparente Abrechnung. Mit diesen Umsetzungen verfügt die Papieri Cham über ein einzigartiges und innovatives Energiesystem. Was die E-Mobilität betrifft, so wird diese nur zur Spitzenlastbrechung im Sekundenbereich ausgeschaltet, aber nicht zur Optimierung des Eigenverbrauchs. Man berücksichtigt die E-Mobilität also nicht im generellen Energie-Lastenmanagement.

Der Abbruch der alten Zentrale erfordert ein sorgfältiges Vorgehen.
©Cham Group / Beat Bühler

Ein Fangedamm aus riesigen Sandsäcken hält die Baugrube für die neue Kraftwerk-Anlage trocken.
©Cham Group / Beat Bühler

Kleinwasserkraftwerk Papieri

Gestaltung
Im Zuge der Umnutzung der Papieri Cham wurde das Kleinwasserkraftwerk vollständig erneuert. Bei diesem handelt es sich um ein Wehrkraftwerk mit einer Ausbauleistung von 230 kW und einer Jahresproduktion von etwa 1.15 GWh. Die Nettofallhöhe beträgt 3,2 m und der Durchfluss max. 10 m3/s. Das Triebwasser wird
von einem Horizontalrechen mit 15 mm Stababstand gereinigt und anschliessend durch eine vierflügelige Kaplanturbine geleitet. Deren Welle ist vertikal angeordnet und direkt mit einem Permanentmagnetgenerator verbunden. Die elektrische Energie wird mit eine Spannung von max. 425 Volt produziert. Das alte Kraftwerk stammte von 1909 und hatte 2 Turbinen mit einer Gesamtleistung von 220 kW. Ein Maschinenstrang wurde während des Umbaus erhalten und kann in einem kleinen Museum im Kraftwerksgebäude besichtigt werden.

Der mit 200 l/s dotierte Fischabstieg erfolgt über einen Kanal, welcher ins Unterwasser führt. Als Fischaufstieg dient eine Fischtreppe, die für Fische mit einer maximalen Länge von 80 cm ausgelegt ist und mit 250 l/s betrieben wird. Sie ist als Doppelschlitzpass mit einer Wasserspiegeldifferenz von Becken zu Becken von
12 cm und einer Schlitzbreite von 35 cm konzipiert. Das verwendete System enature® stammt von der österreichischen Firma «Der Wasserwirt». Es hat den Vorteil, dass es mit weniger Wasser als herkömmliche Fischtreppen auskommt. Dies ist speziell bei Wehrkraftwerken wie im vorliegenden Fall von Bedeutung. Die Fischaufstiegshilfe umfasst 27 Becken und musste aufgrund der beengten Platzverhältnisse teilweise doppelstöckig erstellt werden. Die Gesamtlänge beträgt 130 m. Eine automatische Wehrklappe reguliert schliesslich den Oberwasserspiegel und verhindert einen Aufstau bei einem allfälligen Hochwasser.

Für die Integration des Wasserkraftwerks in den urbanen Raum der Papieri Cham sind zwei Anliegen bemerkenswert: Einerseits musste die komplette Schall-Entkopplung der Turbine und des Generators sichergestellt werden. Diese könnten nämlich störende Vibrationen verursachen und so einen negativen Einfluss auf die Umgebung (angrenzende Wohn- und Gewerberäume) haben. Mit der geringen Fallhöhe des Kraftwerks ist auch die Drehzahl der Maschinengruppe mit 150 U/min tief, was diese Aufgabe nicht vereinfachte. Die gelagerte Turbine könnte mitsamt dem Generator in eine Eigenschwingung geraten und so selbst Schaden nehmen. Die Dämpfung ist allerdings gelungen und die Vibrationen liegen um den Faktor 20 unter der Wahrnehmungsgrenze des Menschen; eine Eigenschwingung konnte dank ausgeklügelter Dämpfung verhindert werden.

Der zweite Aspekt betrifft die Kosten der gesamten Kraftwerksanlage. Ohne die Übernahme der Kosten für die Fischtreppe durch das BAFU wäre das Kraftwerk finanziell nicht realisierbar gewesen. Ohne Unterstützung wären die Gestehungskosten so hoch geworden, dass der Strompreis jenen des lokalen Elektrizitätswerkes überschritten und somit einen ZEV verunmöglicht hätte. Schliesslich konnte das Kraftwerk wegen der «geringen» Leistung auch von keinem Investitionsbeitrag profitieren. Dank der Unterstützung des BAFU kann die Wasserenergie allerdings effizient und ökonomisch vertretbar genutzt werden.

Ausführung
Die Planung des Kraftwerks begann im Jahre 2016 mit der Baueingabe. Damals basierte die Anlage noch auf einem ehehaften Wasserrecht die Zukunft dieser Rechtsform war aber schon damals ungewiss. Ein Jahr zuvor hatte der Fall des benachbarten «Kraftwerk Hammer» für Aufsehen gesorgt. Der diesbezügliche Bundesgerichtsentscheid im April 2019 führte zur grundsätzlichen Abschaffung der ehehaften Wasserrechte.

Infolgedessen wurde im Herbst 2019 eine neue Baueingabe eingereicht und das erste Konzessionsgesuch für den Betrieb eines Wasserkraftwerks im Kanton Zug gestellt. Bei der Erarbeitung der Konzession haben also beide Seiten Neuland betreten. Dabei war die Zusammenarbeit mit dem Kanton gemäss Roland Regli (Leiter Realisierung der Papieri Cham) sehr gut und produktiv. Während der nächsten 18 Monate wurden die Berechnungen für die ökologischen Ersatzleistungen nachgereicht, die Konzessionsverhandlungen geführt, Einsprachen von WWF und Pro Natura bereinigt und ein Finanzierungsgesuch beim BAFU gestellt. Anfangs April 2021 konnte endlich mit dem Bau begonnen werden.

Der Bau brachte besondere Herausforderungen mit sich. So führte ein Jahrhunderthochwasser zu einer Verzögerung von drei Monaten. Auch die Lagerung und Entkopplung von Turbine und Generator stellten eine knifflige Aufgabe dar. Bei der Umsetzung konnte man auf wenig Erfahrung zurückgreifen und so mussten während der Bauzeit die Schwingungen vier Mal kontrolliert und die Lagerung justiert werden. Mit viel Geduld und professioneller Unterstützung wurden aber auch diese Herausforderungen gut gemeistert.

Icon

Seit Dezember 2022 ist das neue Kraftwerk in Betrieb und nutzt die lokale Ressource zur Energiegewinnung wie während der vergangenen Jahrhunderte. Das Kleinwasserkraftwerk ist so zu einem Herzstück des 2000-Watt-Areals geworden, welches technische und historische Aspekte der Papieri Cham verbindet. Schliesslich zeigt die Umsetzung der Anlage, welche Vorteile ein Kleinwasserkraftwerk im Rahmen eines nachhaltigen, integralen und dezentralen Energiesystems haben kann und dass dessen Umsetzung auch im urbanen Raum möglich ist.

Der Doppelschlitzpass System enature® ist bereits erstellt.
Er kommt mit weniger Wasser als herkömmliche Fischtreppen aus. Die Zentrale mit dem Saugrohr ist im Entstehen.
©Cham Group / Beat Bühler

Das grosse Werk ist vollendet. Wasserlebewesen können
bequem flussauf- und abwärts gelangen. Und ein Bibersteg
gewährt den riesigen Nagern eine komfortable Passage.
©Cham Group / Beat Bühler

Das Innere der Kraftwerk-Zentrale. Im Vordergrund steht die neue vertikalachsige Kaplanturbine. Im Hintergrund ist der Museumsraum, wo die Installationen der alten Anlage besichtigt werden können.
©Cham Group / Beat Bühler

Verfasser:
Samuel Vögtli, freier Mitarbeiter Swiss Small Hydro
Roland Regli, Leiter Realisierung «Papieri Cham», Cham Group
Fernando Binder, Projektleiter WKW Papieri, fmb-ingenieure.ch